Ich, Carol Sarbach, erzähle eine Weihnachtsgeschichte, wie sie nur das Haus Herbschtzytlos schreiben kann …
Es war einmal ein Weihnachtstag – ein Tag, der für viele von uns mit Erwartungen und festlichen Vorbereitungen verbunden ist. Doch an diesem besonderen Nachmittag im Haus war es nicht nur die Atmosphäre von Glanz und festlichem Apérogebäck, die den Raum füllte, sondern vor allem die Musik, die Herzen öffnete und eine Verbindung schuf, die weit über den Moment hinausreichte.
Musik mit wundervoller Wirkung
Wir hatten einen Musiktherapeuten eingeladen, einen Mann, der es versteht, mit seinen Klängen und seinem Gesang den Menschen in ihren tiefsten Emotionen zu begegnen. Als gelernte Fachkraft und selbstständiger Musiktherapeut war er in der Lage, über seine Gitarre eine Atmosphäre zu schaffen, die sowohl heiter als auch nachdenklich stimmte. Er wusste genau, wie er die Menschen mit Demenz abholen konnte – mit Musik, die sowohl Trost als auch Freude brachte.
In einer spontanen Runde
Der grosse, runde Tisch war der Mittelpunkt dieses Nachmittags, ein Ort des Zusammenkommens, des Lachens und der Gespräche. Es war ein Moment, in dem die Zeit stillzustehen schien und der Wert des Zusammenseins mehr zählte als alles andere. Eine Angehörige, die anfangs nur zögerlich als stille Besucherin und Beobachterin am Rand sass, liess sich spontan von der Musik anstecken und stimmte mit ein. Auch die Mitarbeitenden fanden sich bald in der Runde wieder. Und so wuchs die kleine, improvisierte Feier zu einer lebendigen und gemeinsamen Erfahrung.
Verbunden in «Stille Nacht»
Besonders berührend war die Anwesenheit eines Mannes, der in der Vergangenheit eine führende Rolle in seiner Familie und in der Gemeinschaft eingenommen hatte – der Patriarch, wie wir ihn liebevoll nannten. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner Demenz blieb seine Präsenz und seine Führungskraft spürbar. Inmitten der Lieder übernahm er den Hut des Gastgebers, gab die Richtung vor und bestimmte, welche Weihnachtslieder gesungen werden sollten. «Stille Nacht» war das Lied, das sich in den Köpfen aller festsetzte, und so wurde es immer wieder angestimmt. Es war ein Moment voller Wärme und in tiefer, fast greifbarer Verbundenheit.
Einer der letzten Wünsche
Doch was diesen Nachmittag noch viel eindrucksvoller machte, war die unerwartete Wendung gegen Ende des Nachmittags. In der oberen Etage lag ein Mann im Sterben. Zu Beginn hatte er unsere Einladung, mit uns zu weilen und zu sein, abgelehnt. Doch plötzlich, als wir alle schon wieder auseinander gehen wollten, bat er uns, zu ihm in sein Zimmer zu kommen und mit ihm zu singen.
Ohne zu zögern, erhob sich die Angehörige, gefolgt von ihrem Lebenspartner und von den anderen Gästen und Mitarbeitenden, und wir gingen alle in das Zimmer des Sterbenden. Es war ein Moment, der uns alle mit einer unbeschreiblichen Intensität berührte – ein Raum, erfüllt von Trauer und Liebe zugleich. Rund zwanzig Menschen, einschliesslich der Gäste, und sogar die Hunde, die zum Teil im Raum waren, versammelten sich um das Bett des Mannes. Wir sangen gemeinsam «Stille Nacht» – und in diesem Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Die Melodie, so friedlich und voller Trost, drang tief in die Herzen ein.
Der Patriarch, der das Wort ergriff, hob sein Glas, um mit dem Sterbenden anzustossen. Ein symbolischer Akt, der gleichzeitig den Übergang und das Abschiednehmen markierte. Ich holte Wein und Gläser, und der patriarchale Gastgeber, der bis zuletzt die Zügel in der Hand hielt, führte uns in ein letztes gemeinsames Anstossen, mit wunderbaren Worten an einen alten Freund. Es war nicht nur Wein, der floss – auch die Tränen. Kein Auge blieb trocken. Es war ein Moment, der die Endlichkeit des Lebens so klar verdeutlichte und zugleich eine tiefe Verbundenheit unter uns schuf.

Ein bedeutsamer Moment
Ich habe viele Momente des Lachens und des gemeinsamen Erlebens in diesem Haus erlebt, aber dieser Moment war besonders. Es war ein stilles, kraftvolles Zusammenkommen, das uns alle mit der Vergänglichkeit des Lebens konfrontierte und gleichzeitig eine neue Perspektive auf die Bedeutung von Nähe, Trost und Zugehörigkeit vermittelte.
Oft neigen wir dazu, Trauer schnell zu beschwichtigen oder zu trösten, weil wir den Schmerz nicht aushalten wollen. Doch was an diesem Nachmittag deutlich wurde, war, dass es nicht immer Worte sind, die trösten. Es ist die gemeinsame Präsenz, das Mitfühlen und das Mitaushalten, was am meisten bewirken kann. Der Tod war an diesem Tag kein Fremder, sondern ein Teil des Lebens – etwas, das wir akzeptierten und in unserer gemeinsamen Zeit miteinander annehmen konnten.
Diese eine Strophe
Als wir später zurückkehrten und uns wieder am Tisch versammelten, war es der Patriarch, der uns darauf hinwies, dass wir «Stille Nacht» noch nicht zu Ende gesungen hatten. Wieder stimmten wir ein, sangen das Lied zu Ende, und er kommentierte, ob wir nicht gemerkt hätten, dass wir bei jedem Singen des Liedes eine und immer wieder die gleiche Strophe ausgelassen hätten. Ein letzter Humor, ein letztes Lied zum Trotz mit allen Strophen, was die Atmosphäre auflockerte, bevor auch dieser Augenblick zu Ende ging. Mit einem Lächeln verabschiedete er sich von uns und lud uns ein, das nächste Weihnachten bei ihm zu Hause zu feiern.
Ein Abschied mit Weihnachtslied
Es war kein Zufall, dass dieses Lied, «Stille Nacht», den Tag begleitete. Es ist mehr als ein Weihnachtslied – es ist ein Friedenslied. Die vierte Strophe, die von Licht und Erlösung spricht, erinnert uns daran, dass wir auch im Abschied Frieden finden können. Der Mann, der im Sterben lag, ist einige Tage später friedlich eingeschlafen, umgeben von Menschen, die ihn wertschätzten und mit ihm sangen. Bei seiner Beerdigung an Neujahr war es der Wunsch der Angehörigen, das Lied «Stille Nacht» nochmals für ihn zu singen.
Verbundenheit über die Musik
Dieses Erlebnis hat mir auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass Lieder die Kraft haben, Menschen wie Brücken über den Tod hinaus miteinander zu verbinden. Sie sind ein wunderschönes Beispiel für den Abschied – wie wir die Eigenheiten eines Menschen und die Bedeutung der gemeinsamen Zeit in unseren Herzen bewahren können.
In diesem Moment, bei diesem gemeinsamen Singen, wurde mir bewusst, wie wichtig solche Rituale sind. Mehr als Worte können sie uns in die spirituelle Dimension des Lebens und des Abschieds führen, ohne uns in festgelegte Glaubenssysteme zu zwingen.
Was an diesem Nachmittag geschah, hätten wir nicht planen können. Es war ein Moment des Lebens, der uns nicht nur über den Tod, sondern auch über das Leben selbst nachdenken liess. Ich ging an diesem Abend dankbar nach Hause, erfüllt von den wertvollen Begegnungen und der tiefen, authentischen Verbindung, die wir miteinander und mit dem Sterben geteilt hatten.
Weihnachten – und das Leben – ist endlich. Doch in jedem Moment des gemeinsamen Erlebens liegt eine Tiefe, die uns am Leben hält. Und vielleicht, so hoffe ich, können wir mehr und mehr den Mut finden, diese Momente zu leben, zu feiern und zu teilen.